Unser Leben wird durch eine beständige Abfolge von Entscheidungen bestimmt. Von der trivialen Wahl zwischen Käse oder Marmelade auf dem Frühstückstoast bis hin zur existentiellen Überlegung, ob mein Können auf Skiern für die schwarze Piste reicht. Viele dieser Entscheidungen sind im Nachhinein nicht mehr zu ändern. Beim Frühstückstoast ist das egal, bei der schwarzen Skipiste vielleicht nicht. Aber wie treffen wir diese Unzahl an täglichen Entscheidungen? Bewerten wir Situationen rational und entscheiden mit dem Verstand, oder hören wir mehr auf das ominöse Bauchgefühl? Aber was ist denn überhaupt ein „Bauchgefühl“?
Intuition versus Verstand
Bei den meisten „großen“, also wegweisenden Entscheidungen meines Lebens, habe ich öfter auf meinen Bauch als auf meinen Verstand gehört. Was soll ich sagen? Im Nachhinein fühlt sich alles richtig an. Meine Entscheidungen haben mich dorthin gebracht, wo ich heute bin. Und dort bin ich gerne. Wenn andere Menschen meine Entscheidungen in diesen Momenten hinterfragt haben, konnte ich sie in der Regel nicht rational begründen. Es fühlte sich halt besser an. Das konnte die (teilweise mehr als berechtigte) Skepsis meiner Umwelt zwar nicht ausräumen, ließ mich aber besser schlafen. An dieser Art meiner Entscheidungsfindung hat sich bis heute nichts geändert. Allerdings weiß ich heute, dass die etwas nebulösen Begriffe wie Intuition oder Bauchgefühl durchaus auf wissenschaftlich vermessenen Füßen stehen.
Die somatischen Marker
Die These der somatischen Marker (griechisch: soma für „Körper“) geht auf den portugiesischen Neurowissenschaftler António Damásio zurück. Nach Damásio werden alle Erfahrungen eines Menschen im emotionalen Erfahrungsgedächtnis gespeichert und dabei direkt mit einer einfachen Bewertung versehen: Positiv, gerne wiederholen oder negativ, besser vermeiden. Im Falle einer anstehenden Entscheidung greift das Erfahrungsgedächtnis auf seinen internen Speicher zurück und bewertet die Situation auf der Grundlage bereits gemachter, ähnlicher Erfahrungen. Das geschieht unbewusst und dringt nicht bis zur rationalen Bewusstseinsebene vor. Allerdings löst dieser Prozess körperliche Reaktionen aus (somatische Marker), die bei genauem „Hinfühlen“ eine Entscheidungshilfe sein können.
Dafür muss man diese Körpersignale natürlich erst einmal wahrnehmen. Es gibt angeborene somatische Marker wie den Ekel vor verdorbener Nahrung oder die intuitive Angst vor Schlangen. Die meisten dieser oft nur Millisekunden spürbaren Signale sind aber erlernt, beruhen also auf dem individuellen Erfahrungsschatz eines Menschen. Typische somatische Marker für positive Erfahrungen sind beispielsweise Wärme, ein „Kribbeln im Nacken“ oder Gänsehaut. Negative Erfahrungen werden oft von einem Engegefühl in der Brust, Zittern oder gar körperlichen Schmerzen begleitet.
Intuition ist fehlbar – der Verstand auch
Der Mensch neigt grundsätzlich zur Selbstüberschätzung. Das gilt auch, oder sogar speziell, für die Leistungsfähigkeit seines Gehirns. In der (falschen) Annahme, der eigene Geist werde in einer Entscheidungssituation schon alle relevanten Informationen erfassen und daraus eine rationale Entscheidung ableiten können, „überhören“ viele Menschen die unbewussten Signale der sensorischen Marker. Entpuppt sich die rational getroffene Entscheidung im Nachhinein als falsch, hört man nicht selten den Satz „Hätte ich doch nur auf meinen Bauch gehört.“ Natürlich kann aber die Intuition genauso danebenliegen. Insbesondere bei der Beurteilung einer bislang noch nicht dagewesenen Situation, kann das Erfahrungsgedächtnis auf keine gespeicherten Daten zurückgreifen. Daraus lässt sich folgende Faustregel ableiten: Unbekanntes sollte erst einmal mit dem rationalen Verstand beurteilt werden, wohingegen man in bekannten Situationen durchaus auf sein Bauchgefühl vertrauen darf.
Die Unvernunft der Intuition
„Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust.“ Dieses Zitat aus Goethes Faust bringt unser menschliches Dilemma bei der Entscheidungsfindung genau auf den Punkt. Sowohl Verstand als auch Intuition verfolgen das gleiche Ziel: Die Folgen einer Entscheidung sollen das individuelle Glück steigern. Während der Verstand aber gerne mit Vernunftsentscheidungen auf ein fernes Glücksziel hinarbeitet, orientiert sich die Intuition am unmittelbaren Glücksgewinn. Ein Beispiel: Die Vernunft sagt, dass ich arbeiten gehen muss, um langfristig meine Bedürfnisse zu stillen. Die Intuition sagt: Die Sonne scheint, also ist heute ist kein guter Tag für die Arbeit. In unserer rational geprägten Gesellschaft geht man daher zur Arbeit, obwohl die Bauchschmerzen (sensorischer Marker) dagegen sprechen. Dilemma erkannt, aber leider nicht gelöst.
Und jetzt?
Beide Entscheidungsmodelle, also das rationale und das intuitive, haben ihre Stärken und Schwächen. In vielen Fällen erweist sich daher eine Kombination beider Vorgehensweisen als sinnvoll. Mit dem Verstand sammeln wir verfügbare Informationen, sollten dem Bauch aber genug Zeit geben einer Entscheidung zuzustimmen oder ein Veto einzulegen. Die alte Redewendung „Darüber muss ich erstmal eine Nacht schlafen“ bedeutet nichts anderes als: Da muss ich meinen Verstand erst einmal ausschalten und das Unterbewusstsein seine Arbeit machen lassen. Wie in so vielen Fällen gilt auch hier: Die richtige Mischung macht’s.