Vor ein paar Monaten bin ich im Berliner Mauerpark einer Gruppe junger Männer begegnet. Sie schwenkten Wodkaflaschen, grölten rum und waren auch sonst auf jede nur erdenkliche Art peinlich. Nicht, dass ein derartiges Verhalten in Berlin besonders ungewöhnlich wäre - es war ein furchtbar heißer Tag und irgendwie schien die Hitze in der Stadt allen auf Gehirn und Gemüt zu schlagen. Dieses testosterongeschwängerte Rudel fiel allerdings besonders auf, weil die strammen Jungs einen starken bayrischen Akzent hatten und rosafarbene T-Shirts mit dem Aufdruck „Juchhei, der Martin heiratet“ trugen.
Nur einer stach aus der Gruppe hervor: Sein T-Shirt war schwarz und auf der Brust war zu lesen „Scheiße, ich bin ja der Martin“. Aha, dachte ich, ein Junggesellenabschied, wie niedlich. Derweil hatte Martin den Kopf in den Nacken gelegt und nahm unter dem Gejohle seiner Entourage noch einen guten Hieb von dem wahrscheinlich lauwarmen Gorbatschow. Ja mei, die haben halt Stil, diese bayrischen Prachtkerle. Doch scheinbar kennt selbst der stärkste bayrische Saumagen seine Grenzen und nur Sekunden später landete der Wodka nebst einem Pfund halbverdautem Döner zu Martins Füßen, beziehungsweise auf seinen Krachledernen. Ich ertappte mich bei einem seltsamen Gefühl: Ich schämte mich. Für Martin, für die Bayern und für das männliche Geschlecht im Allgemeinen. Ein äußerst unangenehmes und befremdliches Gefühl, das sich noch verstärkte, als Martin in der Lache seines Erbrochenen zu Boden ging. Ich verließ den Ort des Grauens zügig.
Die Peinlichkeit der anderen
Auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn zückte ich mein grünes Moleskin-Büchlein und notierte: Fremdschämen checken. Dahinter machte ich drei fette Ausrufezeichen. Jetzt sitze ich hier am Rechner und werde versuchen, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen. Seid ihr dabei? Los geht’s! Wie so oft ist der Onlineduden meine erste Anlaufstelle, wenn ich mich einem Wort oder Begriff annähern möchte. Unter dem Begriff „fremdschämen“ steht dort, dass es sich um ein schwaches, umgangssprachliches Verb handelt. Bedeutung: „sich stellvertretend für andere, für deren als peinlich empfundenes Auftreten schämen“. Alles klar, das passt. Ich fand Martin (und den Rest seiner bayrischen Bande) extrem peinlich. Und aus den Blicken der anderen Passanten im Mauerpark war zu schließen, dass es ihnen ebenso erging wie mir. Obwohl: Auf einigen Gesichtern war auch eine Art unverhohlene Schadenfreude zu erkennen, frei nach dem Motto „geschieht ihm ganz Recht, dem Suffkopp!“
Die psychologischen Mechanismen
Die meisten Forschungen zum Thema des Fremdschämens sind jüngeren Datums. So wurde der Begriff „Fremdscham“ als solcher auch erst im Jahr 2009 in den Duden aufgenommen. Erstaunlicher- oder eigentlich eher logischerweise ist hier eine zeitliche Parallele zum Aufkommen bestimmter Fremdschäm-TV-Formate zu erkennen. Wenn sich diverse XYZ-Promis vor laufender Kamera freiwillig in extrem peinliche Situationen begeben, sind Schadenfreude und Fremdschämen der Zuschauer vorprogrammiert und erwünscht. Gleichzeitig signalisiert die Teilnahme an derartigen Formaten eine Resignation der Art „Jetzt ist eh‘ alles wurscht“, denn tiefer geht’s nicht auf der Promileiter. Wer sich beim Verzehr von Krokodil-Hoden in Nahaufnahme filmen lässt, darf sich nicht wundern, wenn er danach keine Charakterrollen mehr angeboten bekommt.
Ob Dschungelcamp, Promi-Big Brother oder das Sommerhaus der Stars – all diese Trashformate stellen die Zurschaustellung menschlicher Abgründe in den Vordergrund. Und das mit stetig wachsendem Erfolg und steigender Quote. Anscheinend bereitet es dem gemeinen Zuschauer eine voyeuristische Freude, andere Menschen leiden zu sehen. Und da der Mensch dazu neigt rasch abzustumpfen, müssen natürlich immer stärkere Geschütze aufgefahren werden. Zu gerne würde ich einmal Mäuschen in den Entwicklungsabteilungen neuer TV-Shows spielen – je tiefer dort in der Ekel- und Fäkalienkiste gekramt wird, desto besser die zu erwartende Quote. Was passiert dabei auf der anderen Seite des Bildschirms, also beim Zuschauer? Neueste Forschungen zeigen, dass die Fähigkeit zum Fremdschämen bei empathischen Menschen stärker ausgeprägt ist. Das bedeutet: Je besser ich mich in andere Menschen und deren Gefühlswelt hineinversetzen kann, desto mehr tritt der Aspekt der Fremdscham in den Vordergrund. Im Umkehrschluss: Je weniger empathisch ein Mensch ist, desto eher wird er Schadenfreude anstelle von Scham empfinden.
Ein mögliches Fazit
Für die von anderen Personen begangenen Peinlichkeiten Scham zu empfinden, ist kein Zeichen einer gestörten Überempfindlichkeit. Im Gegenteil: Der Mensch, der zur Fremdscham imstande ist, kann stolz auf eine besonders gut ausgeprägte Empathie sein. Gleichzeitig kann das Fremdschäm-Erlebnis eine kathartische, also reinigende Wirkung haben. Denke ich jetzt an den bayrischen Martin im Mauerpark ist das Gefühl des Fremdschämens einem Anflug von Mitleid gewichen – wie schade für ihn, dass er als Vorbereitung auf den „schönsten Tag seines Lebens“ eine solch erniedrigende Prozedur absolvieren musste. Bleibt nur zu hoffen, dass keiner seiner Kumpels auf die blöde Idee gekommen ist, ihn in diesem Moment der besoffenen Hilflosigkeit zu filmen und das Ganze seiner Zukünftigen zu präsentieren. Also Martin: An dieser Stelle die besten Wünsche zur Hochzeit, hoffentlich hast du rechtzeitig nach Bayern heimgefunden. Ach ja, der obligatorische Tipp: Wodka sollte immer eiskalt genossen werden. ;)