Neulich bin ich während einer ausgedehnten Surf-Tour im Internet auf ein spannendes Thema gestoßen: Drabbles. Der Begriff sagte mir überhaupt nichts, also habe ich ein wenig recherchiert. Dass sich aus dieser zufälligen Begegnung eine spontane Liebesbeziehung entwickeln würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Was also verbirgt sich hinter dem Begriff, der beim ersten Lesen an den Namen eines kniffeligen Zahlenrätsels erinnert?
Drabbles sind extrem kurze Kurzgeschichten. Sie müssen aus genau 100 (in Worten: einhundert) Wörtern bestehen, dabei wird die Überschrift nicht mitgezählt. Zehn hoch zwei Wörter – ist das viel oder wenig? Wie lang sind Kurzgeschichten normalerweise? Dazu habe (Achtung, ein Einschub: Das letzte Wort vor dieser Klammer ist genau das hundertste in diesem Text. Das nur, damit ihr eine Idee habt, wie lang, oder besser wie kurz ein Drabble sein muss. Einschub Ende.) ich ebenfalls im Netz Infos gefunden, die allerdings recht schwammig sind. Zum Beispiel: Eine typische Kurzgeschichte kann „mehrere Seiten lang“ sein. Aha? Da gefällt mir eine andere Definition schon besser, obwohl sie auch nicht viel aussagekräftiger ist: „Man kann die Geschichte in einem Rutsch, also an einem Abend oder während einer längeren Straßenbahnfahrt durchlesen.“ Was ich also in der Tram M10 zwischen Eberswalder Straße und Warschauer Straße von Anfang bis Ende lesen kann, zählt offiziell zu den Kurzgeschichten. Das werde ich demnächst ausprobieren. Jetzt aber zurück zu den Drabbles.
Der kleine Exkurs in die Welt der Kurzgeschichte hat gezeigt, dass ein Drabble SEHR kurz ist (jetzt sind wir schon bei 200 Wörtern, also der doppelten Drabble-Länge). Trotzdem soll in die 100 Wörter alles reinpassen, was eine Geschichte ausmacht: Anfang, Mittelteil, Schluss. Zur Entstehungsgeschichte dieser außergewöhnlichen Literaturform gibt es verschiedene Theorien. Als sicher gilt, dass die ersten Drabbles um 1930 als sogenannte Fanfiction rund um die Sherlock Holmes-Romane des britischen Schriftstellers Sir Arthur Conan Doyle entstanden sind. Der Begriff Fanfiction bezeichnet die literarische Verwertung bekannter Charaktere durch ihre Fans. Einen wahren Boom erlebte das Genre um 1967, als Fans von Star Trek in sogenannten Fanzines (Fan-Magazinen) selbst erdachte Geschichten rund um Captain Kirk, Spock und Co. veröffentlichten. Viele dieser Beiträge waren in das enge Korsett eines Drabbles gepresst (jetzt schon 300 Wörter) und wiesen ein pointiertes Ende auf.
Damit ähneln Drabbles im weitesten Sinn der Gattung der Witze, müssen aber nicht wie diese unbedingt lustig sein. Ein Drabble kann genauso gut im Gewand eines Krimis, einer Romanze oder jedes anderen literarischen Genres daherkommen. Wikipedia merkt noch an, dass ein Drabble „…aufgrund seiner einfachen äußeren Form gerne von ungeübten Autoren als Einstieg in Lyrik oder Prosa genutzt wird.“
Warum schreibe ich hier einen Text über Drabbles in einer Länge von mehreren Drabbles? Ganz einfach (400 Wörter): Es macht total Spaß, sie zu schreiben, anderen vorzulesen, als Mail oder Brief zu verschicken und so weiter. Wer gerne schreibt, kann sich einerseits austoben, andererseits einen strammen Erzählfluss trainieren. Jedes Wort zählt, schließlich hat der Schreiber nur 100 Stück davon zur Verfügung. Man lernt beim Drabble-Schreiben ganz spielerisch eine Beschränkung auf das wirklich Wesentliche einer Geschichte. Nach so viel Theorie ein Beispiel aus der Praxis:
Tödliche Akrophobie
Krampfhaft klammerte Paul sich an das morsche Leiterholz und warf einen Blick in die Tiefe. Sofort erfasste ihn ein gewaltiger Schwindel. Er richtete den Blick wieder nach oben. Dort musste er hin, koste es was es wolle. Die grelle Mittagssonne stach ihm in die Augen. Verdammt, schoss es ihm durch den Kopf, worauf habe ich mich hier eingelassen? Marias Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen: „Los Paul, ein Stückchen noch.“ Er machte den nächsten zögernden Schritt, streckte den zitternden Arm aus, und seine Hand schloss sich um den roten Apfel. Geschafft. Was tut man nicht alles für einen Apfelkuchen.
Das sind genau hundert Wörter, ohne Überschrift. Über die literarische Qualität kann man streiten, ich übe noch. Aber formal erfüllt die Mini-Kurzgeschichte alle Kriterien eines Drabbles. Aufgrund der Kürze ist man beim Schreiben gezwungen, direkt mit der Handlung (500 Wörter, ohne Drabble) loszulegen. Es gibt wenig bis keine erklärenden Beschreibungen und der Leser bekommt viel Raum für eigene Interpretationsmöglichkeiten. Auch die Anzahl der handelnden Personen ist zumeist sehr klein. Mein Tipp: Versucht selbst einmal einen Drabble zu schreiben, es macht wirklich Spaß. Im Netz findet man unzählige Beispiele. Es lohnt sich zu stöbern und ein paar Inspirationen zu sammeln. Wie wäre es, die Kommentarfunktion unter diesem Beitrag für ein paar Drabbles zu nutzen? 100 Wörter sind nicht viel. :)
Oma of 2