Lügen haben kurze Beine

Lügen haben kurze Beine
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Wenn wir alle beim Lügen lange Nasen bekämen, wie die zum Leben erwachte Holzpuppe „Pinocchio“ in Carlo Collodis gleichnamigem Roman, wäre das Leben um einiges gefährlicher. Aber die Gefahr würde nicht vom Lügen an sich ausgehen, sondern vom Gewirr langer Nasen, in dem man sich bei Gedränge leicht ein Auge ausstechen könnte. Denn wir lügen alle. Ausnahmslos. Wer jetzt empört aufschreit „Ich doch nicht“, lügt schon wieder und sollte sich lieber mal an die eigene (lange) Nase fassen. Und um es mal mit Berlins Ex-Bürgermeister Klaus Wowereit auf den Punkt zu bringen: „Das ist auch gut so.“ Er selbst hat nach seiner Wahl keinen Hehl aus seiner sexuellen Orientierung gemacht, soll heißen: Zumindest in diesem Punkt hat er nicht gelogen. Lassen wir die ganze Lügengeschichte rund um den noch nicht eröffneten, aber bereits jetzt schon veralteten Flughafen BER mal außen vor.

Um eins noch klarzustellen: Dies ist kein Plädoyer für die Lüge. Ich selbst versuche möglichst lügenfrei durchs Leben zu gehen. Für diese Haltung ist ein Stück weit mein moralisches Gewissen verantwortlich. Den weitaus größeren Anteil daran haben aber Erfahrungswerte, die ganz klar belegen: Eine Lüge macht in der Regel alles komplizierter und stressiger als die Wahrheit. Auch wenn die manchmal mich selbst oder andere schmerzt. Hier wird also nicht für die Lüge geworben, sondern ein Erklärungsmodell dafür gesucht, warum wir lügen. Ein fiktives Beispiel:

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Ich treffe auf der Straße einen flüchtigen Bekannten, dessen belangloses Geschwätz mich neulich auf einer Party zu Tode gelangweilt hat. Eine Lüge wäre jetzt zu sagen: „Schön dich zu treffen“. Genauso gelogen wäre „Ich habe gerade keine Zeit“, denn ich habe jede Menge Zeit, aber absolut keine Lust auf sein Geschwafel. Die Wahrheit wäre „Mach bloß nicht den Mund auf, du nervst total“. Wofür entscheide ich mich? Er ist nicht mein Feind, daher will ich ihn nicht wirklich verletzen. Er ist aber auch nicht mein Freund, dem gegenüber ich mich zur Ehrlichkeit verpflichtet fühle. Die brutale Wahrheit fällt daher schon mal aus. Also mixe ich spontan aus Lüge eins und zwei eine dritte und reichere sie noch mit ein paar Worthülsen an: „Mööönsch, du auch hier? Is ja ‘n Ding, aber ich habe gerade ü-b-e-r-h-a-u-p-t keine Zeit. Ciao, man sieht sich.“ Ich könnte die Glaubwürdigkeit des Gesagten noch mit Floskeln wie „Arzttermin“ oder „Kind abholen“ untermauern, aber den Aufwand ist es mir nicht wert.

Die ganzen Vorüberlegungen, was ich denn nun sagen soll, laufen in Sekundenbruchteilen und größtenteils unbewusst ab. Was dabei herauskommt, wird gerne als Notlüge bezeichnet. Soziologen und Psychologen halten diese Form der Lüge für das Schmiermittel unserer menschlichen Gesellschaft, denn: Würden wir uns alle immer die nackte Wahrheit ins Gesicht sagen, wären Schlägereien auf offener Straße an der Tagesordnung. Daher sollte man Notlügen nach dem Medikamenten-Prinzip behandeln: So wenig wie möglich und so viel wie nötig.

Wo wir gerade bei den Psychologen sind: Studien belegen, dass wir die Fähigkeit zu lügen bereits in der Kindheit ausbilden und ständig weiterentwickeln. Professor Kang Lee vom kanadischen Institute of Child Study in Toronto untersuchte 2010 eine Gruppe von 1.200 Kindern auf ihre Fähigkeit zu flunkern. Fazit: Je älter die Kinder werden, desto mehr lügen sie. Sind es bei den Zweijährigen noch 20 Prozent, lügen schon 50 Prozent der Dreijährigen und stolze 90 Prozent der Vierjährigen. Auch der Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zu lügen und dem Intelligenzquotienten war Teil dieser Studie. Erkenntnis: Wer früh lügt, dessen Gehirn entwickelt sich schneller. Dazu Professor Lee: „So gut wie alle Kinder lügen. Die mit der besseren kognitiven Entwicklung lügen besser, weil sie ihre Spuren besser verwischen. Im späteren Leben könnten sie vielleicht Banker werden.“ Das erklärt natürlich einiges.

Alles harmlos soweit. Notlügen sind gesellschaftlich nicht nur entschuldbar, sondern anscheinend notwendig im Rahmen einer friedlichen Koexistenz. Richtig unangenehm wird es hingegen, wenn im Kreis der Liebsten gelogen wird: In der Familie, in der Ehe, in einer Liebesbeziehung oder in Freundschaften. Hier ist es oftmals Angst, die eine Lüge gebiert. Angst vor den Konsequenzen einer Handlung, vor Zurückweisung, Liebesentzug, Streit oder Schlimmerem. Und ausgerechnet dort haben Lügen die allerkürzesten Beine. Wo sich Menschen sehr nahe kommen, ist die Gefahr bei einer Lüge ertappt zu werden besonders groß, und der daraus resultierende Vertrauensverlust besonders schwerwiegend. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht mehr. So gerne man das auch möchte. Hier kann man einen bekannten Ausspruch unserer Bundeskanzlerin leicht in einen Merksatz umwandeln. Das Original lautet: „Ausspähen unter Freunden geht gar nicht.“ Der Merksatz ist: „Anlügen unter Freunden (Partnern, Familienmitgliedern) geht gar nicht.“

Und wer sich jetzt noch verwundert nach einem tiefschürfenden Tipp umschaut, wird sich hoffentlich durch diese kleine Notlüge besänftigen lassen: Den Tipp habe ich heute Morgen aus Versehen in der U-Bahn liegengelassen.

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