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Der Winter 1992 war toll. Soll heißen: Mein Winter war toll. Wie er hier in Deutschland war weiß ich nicht, da ich von Ende November bis Anfang März an einem Strand auf der kleinen thailändischen Insel Koh Phangan gelebt habe. Warum ich das erzähle? Nun, es passt wunderbar zu dem Thema, über das ich heute schreiben möchte: Das ständig-zu-viel-von-allem-Gefühl. Eine permanente Konsum-Übersättigung in jeglicher Hinsicht. An meinem kleinen Strand war das anders. Mein Reisegepäck bestand aus einer Gitarre und einem (kleinen) Rucksack mit ein paar Klamotten, einer Zahnbürste und einer Literflasche Sonnenschutzcreme 50+. Als Erklärung für die Sonnencreme möchte ich anmerken, dass ich rothaarig bin und Sonnenbrand mein zweiter Vorname ist.
Ich hatte eine kleine Bambushütte gemietet, natürlich die fünf-Sterne-Variante mit einer fingerdicken Matratze und einem Moskitonetz. Klo und Dusche befanden sich etwa zwanzig Meter entfernt in einem kleinen gemauerten Verschlag. Wobei Dusche bedeutet, dass in einem ebenfalls gemauerten Trog Süßwasser vom nahe gelegenen Wasserfall gesammelt wurde. In dem Trog schwamm ein kleiner Eimer, mit dem man Wasser schöpfen und sich übergießen konnte. Fertig. Strom vom Generator gab es nur abends von 19 bis 21 Uhr aus zwei Steckdosen in der nach allen Seiten offenen Strandbar. Aber den brauchte von den 25 oder 30 Leuten am Strand niemand. Zumindest habe ich nie gesehen, dass jemand einen Stecker in eine der Dosen gesteckt hätte. Stecker wovon auch? Handys und Laptops gab es noch nicht und Elektrorasierer sind bei Strandbewohnern in etwa so beliebt wie Maßanzüge.
Der Strand war nur vom Meer aus erreichbar und zweimal die Woche kam ein Versorgungsboot. Dann wurde in der Strandbar eine Thermotruhe mit riesigen Eisklötzen und Getränken bestückt und der thailändische Koch nahm ein paar Kisten mit Lebensmitteln in Empfang. Gezahlt wurde erst bei der Abreise. Bis dahin schrieb man einfach alles, was man trank oder aß in ein kleines Buch, das ebenfalls zur Grundausstattung jeder Bambushütte gehörte. Mensch, ich gerate ins Schwärmen, aber Stopp, das soll kein Reisebericht werden. Ich wollte euch lediglich ein Bild vermitteln, wie gewaltig der Kontrast zu meinem gewohnten Leben in Deutschland war. Das einzige, was es am Strand im Überfluss gab, waren Natur und Ruhe.
Als ich im März 1992 bei 10 C° (gefühlt minus 20 C°) wieder in Berlin-Tegel landete, dachte ich die Stewardess hätte eine Droge in meinen Tomatensaft gemixt. Irgendetwas, das alle Sinne extrem empfindlich werden lässt und einen in die Panikstarre totaler Reizüberflutung versetzt. Es herrschte ein Hauen, Stechen, Drängeln und Schieben wie bei einer Stierhatz in Pamplona. Alle Welt schien vor etwas weg-, oder zu etwas hinzurennen. Den Rest gaben mir die überquellenden Schaufensterauslagen der zahlreichen Flughafenshops. Ich investierte den schmalen Rest meiner Urlaubskasse in ein Taxi für die Heimfahrt, etwas, das ich normalerweise nie mache. Aber ich befürchtete im TXL-Bus und der U-Bahn einen unkontrollierten Schreikrampf zu bekommen. ZU VIEL brüllten meine Synapsen, viel zu viel von allem.
Nach ein paar Tagen der Akklimatisierung wurden die Symptome milder und ich konnte wieder ohne Schweißperlen auf der Stirn einkaufen gehen. Was blieb, war das zu-viel-Gefühl. Im Supermarkt stand ich vor dem Regal mit Zahnpasta und zählte über 20 Sorten. Das gleiche bei Brot, Saft und Joghurt, eigentlich bei allem. Wer braucht das alles? Bedeutet eine fast unbegrenzte Auswahlmöglichkeit nicht mehr Stress als Freiheit? Ich bin keineswegs ein Anhänger der Ein-Produkt-Philosophie, wie sie in der Ex-DDR üblich war, aber ein Überangebot ist für mich keine echte Alternative.
Natürlich hinkt der Vergleich zwischen deutschem Alltag und einem Leben am thailändischen Strand so stark wie ein dreibeiniger Hund, aber trotzdem…kann ich mir nicht ein Stück dieser asketischen Lebensführung in mein Hier und Jetzt transportieren? Klar, eine Bambushütte in Berlin-Charlottenburg gibt’s nicht und die Supermärkte werden wegen mir auch nicht ihr Angebot reduzieren. Die Frage ist eher, wie weit ich mich auf das alles-immer-und-überall-Spiel einlasse. Ich kaufe mittlerweile so schnörkellos wie möglich ein, immer nur das Notwendigste und Einfachste. Und das in einer Menge, die wir auch garantiert verbrauchen können. Den Rest kauft meine Frau. Nein, Scherz. Wir sind in dieser Hinsicht sehr ähnlich gestrickt und ziehen in Sachen Konsumreduktion an einem Strang, das passt schon. Allen, die jetzt sagen „Das mache ich schon immer so!“ empfehle ich einen kritischen Blick in ihre Vorratsschränke und dann Hand aufs Herz: Echt jetzt? Und alle die sagen „Das will ich gar nicht so machen!“ kann ich nur ermuntern, ihren eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen treu zu bleiben. „Nı tæ̀la wiṭhī kār k̄hxng k̄heā xeng“ wie es in Thailand heißt: „Jeder auf seine Weise“. Für mich ist weniger halt meistens mehr…
basherte