Prokrastination, oder: Der kleine Oblomow in uns allen

Prokrastination, oder: Der kleine Oblomow in uns allen
Lesezeit ca. 2 Minuten

Es ist immer wieder schön, wenn für einen wohlbekannten, aber bislang unbenannten Zustand, plötzlich eine zutreffende Bezeichnung auftaucht. Genau das passierte mir vorgestern beim ziellosen Surfen im Internet. Bezeichnenderweise steht der gefundene Begriff in engem Zusammenhang mit meinem Treibenlassen im digitalen Raum. Eine Fügung? Jedenfalls stolperte ich in einem Beitrag über das Wort Prokrastination und sofort war meine Neugier geweckt: Ein bislang unbekanntes Fremdwort! Und das mir, dem leidenschaftlichen Sammler schöner, seltsamer und selten gebrauchter Wörter. Ernsthaft, ich führe stets ein kleines grünes Moleskin-Heft mit mir, in dem ich Fremdwörter und ihre Bedeutung notiere. Und das hier war ein echtes Prachtexemplar: Pro-kras-ti-na-ti-on. Zum Dahinschmelzen, oder?

Sofort googelte ich das Wort. Übrigens: Wusstet ihr, dass „googeln“ seit 2004 offiziell im Duden steht? Doch zurück zum Thema. Wikipedia sei Dank wusste ich kurz darauf, dass das Wort Prokrastination aus den Begriffen „pro“ (für) und „cras“ (morgen) entstanden ist. Es handelt sich dabei um eine Arbeitsstörung, die vielen als „Aufschieberitis“ bekannt sein dürfte. Dabei werden zu erledigende Aufgaben ohne ersichtlichen Grund verschoben oder unterbrochen. Meist zugunsten einer anderen Tätigkeit, die in keinem Zusammenhang mit der eigentlichen Aufgabe steht. Beim Lesen beschlich mich ein unbehagliches Gefühl. Woher kannte der Autor des Textes mich und meine schlechten Angewohnheiten bloß?

An dieser Stelle erklärt sich auch der bereits erwähnte Zusammenhang zwischen meiner Internet-Surf-Tour und dem dabei gefundenen Begriff Prokrastination. Ich war an diesem Tag voller Elan aufgestanden: Endlich wollte ich die längst überfällige Arbeit für mein Fernstudium schreiben. Am Abend zuvor hatte ich bereits meinen Schreibtisch aufgeräumt. Weg mit den angefangenen Origami-Figuren, dem Lötkolben, der Schneidematte, den umherfliegenden Buntstiften, einem unvollendeten Revell-Flugzeug-Bausatz, den ausgeschnittenen Zeitungsartikeln und den Gitarren-Noten. Nichts sollte mich von meiner Schreibarbeit ablenken. Frisch geduscht und mit einer dampfenden Tasse Kaffee neben mir öffnete ich also am Morgen ein neues Word-Dokument, doch Moment…ich hatte meine E-Mails noch gar nicht gecheckt. Das dauert ja nur eine Minute. Dachte ich.

Zwischen belanglosen Werbemails versteckte sich eine Nachricht des von mir abonnierten YouTube-Channels der Darts-Cooperation. Ich klickte den Videolink an und das Verhängnis nahm seinen Lauf. Während ich Michael van Gerwen dabei zusah, wie er seinen Gegner am Dartboard vernichtete, poppte am Bildschirmrand ein Werbefenster von Douglas auf. Oha, dachte ich, woher wissen die denn, dass meine Liebste bald Geburtstag hat? Klick. Hmm, heute 10 Prozent auf alles? Echt ein Schnäppchen. Wie hieß doch gleich der Lieblingsduft meiner Herzensdame? Ich ging ins Bad und wollte gerade den Spiegelschrank öffnen, um nachzusehen, als mir die Zahnpastaspritzer auf dem auffielen. Geht ja gar nicht. Also ging ich in die Küche, holte Glasreiniger und Haushaltsrolle und putzte den Spiegel. Toll, wie das glänzte.

Zurück am Rechner merkte ich, dass ich vergessen hatte, nach dem Parfümnamen zu schauen. Egal, bestelle ich halt später, ich hatte zu tun. Aber erstmal einen Schluck Kaffee, uärghs, eiskalt. Ich ging in die Küche und goss mir einen frischen Kaffee ein. Aus dem Hinterhof drang ein lautes Rumpeln durchs Küchenfenster. Ach, da waren die angekündigten Handwerker, die den Seitenflügel neu streichen sollten. Die nächste halbe Stunde beobachtete ich eine Horde original Berliner Bauarbeiter beim Aufstellen des Gerüsts. Erstaunlich, wie schnell das ging, wie zielgerichtet. Apropos zielgerichtet: Siedend heiß fiel mir meine noch nicht mal angefangene Studienarbeit ein. Ich überließ die Bauarbeiter ihrer beneidenswert klaren Aufgabe, setzte mich wieder vor den PC-Monitor und schloss alle offenen Fenster vor meinem Word-Dokument.

Auffordernd blinkte der Cursor auf dem leeren, weißen Hintergrund. Ich tippte die Überschrift und den ersten Satz. Mit einer roten Wellenlinie mahnte mein Rechtschreibprogramm einen Fehler im Wort „Sisyphosarbeit“ an. Ich sollte das „o“ durch ein „u“ ersetzen. Echt jetzt? Mein ganzes Leben lang hatte ich gedacht der Typ mit dem Stein heißt Sisyphos, nicht Sisyphus…das musste ich googeln. Der Wikipedia-Eintrag stellte klar: Eigentlich geht beides, „o“ und „u“. Ich klickte ein paar interessant klingende Querverweise an, und zwanzig Minuten später war ich irgendwie bei Oblomow, dem tragischen Helden in Iwan Gontscharows gleichnamigem Roman gelandet. Und da war es, das Wort: Prokrastination. Oblomow verkörpert den typischen Prokrastinierer, der wie gelähmt und zur Handlungsunfähigkeit verdammt seinem eigenen Untergang entgegensteuert. Das Buch musste ich haben! Also auf zu amazon, ein paar Rezensionen lesen und eine Bestellung machen. Das DHL-Päckchen mit dem Buch ist für morgen angekündigt. Vielleicht schaffe ich es ja vorher noch meine Studienarbeit zu schreiben. Und wenn ich ganz doll motiviert bin, und ihr in den Kommentaren Interesse anmeldet, könnte ich auch mal einen echten Tipp schreiben: Wie überwinde ich die Prokrastination? Da könnte ich ja gleich mal etwas zum Thema googeln…

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20 Kommentare

klasse geschrieben! :)
danke.
würde mich sehr über weitere Artikel über das Thema freuen

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