Buchtipp: "Tschick" von Wolfgang Herrndorf

Buchtipp: "Tschick" von Wolfgang Herrndorf
Lesezeit ca. 2 Minuten

In den Kanon der deutschen Schullektüre aufgenommen zu werden, ist für jeden Roman der literarische Ritterschlag. Damit zieht „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf gleichauf mit Klassikern wie „Oliver Twist“ oder „Moby Dick“. Dabei ist Tschick ganz anders. Zumindest anders als alle Lektüre, die mir in meiner lange zurückliegenden Schulzeit im Rahmen der lehrplanmäßig festgeschriebenen „Geschmacksbildung“ aufgezwungen wurde.

Tschick ist ein Jugendroman für Erwachsene. Oder ist es doch andersherum? Ein Erwachsenenroman für Jugendliche? Nicht nur in Bezug auf diese Fragestellung erinnert Tschick an Mark Twains „Tom Saywer und Huckleberry Finn“. Auch hinsichtlich der Thematik fallen Parallelen auf. Sowohl Twain als auch Herrndorf beschreiben eine Jugendfreundschaft zwischen zwei Außenseitern. Doch während Tom und Huck auf einem Floß den Mississippi befahren, verschlägt es Maik und Tschick mit einem geklauten, hellblauen Lada in die ehemals ostdeutsche Provinz. Aber der Reihe nach…

Zum Inhalt

Der Ich-Erzähler Maik Klingenberg geht in die achte Klasse. Trotz seines interessanten Spitznamens „Psycho“ gilt Maik als Langweiler. Er hat keine Freunde und sein nach außen hin gutbürgerlich wirkendes Elternhaus ist in Wahrheit kaputt. Seine Mutter geht regelmäßig in die von ihr „Beautyfarm“ genannte Klinik zum Alkoholentzug, während Maiks Vater Bestätigung bei seiner jungen Geliebten Mona sucht.

Eines Morgens stellt Maiks Lehrer der Klasse einen neuen Mitschüler vor. Der Russlanddeutsche Andrej Tschichatschow wird wegen seines unaussprechlichen Nachnamens von allen bald nur noch „Tschick“ genannt. Er gibt seinen Mitschülern Rätsel auf. Bekannt von ihm ist eigentlich nur, dass er im Unterricht gelegentlich vom Stuhl kippt und in einer Plattenbausiedlung in Berlin-Hellersdorf lebt.

Mit den Sommerferien kommt die Hitze. Maiks Mutter muss mal wieder in der Beautyfarm einchecken und Maiks Vater geht mit Mona auf „Geschäftsreisen“. Zu allem Überfluss schmeißt ausgerechnet die Klassenschönheit Tatjana, die Maik „einfach insgesamt super“ findet, eine Geburtstagsparty. Natürlich ist Maik alias „Psycho“ nicht eingeladen. Am Tag der Party steht Tschick plötzlich mit einem hellblauen Lada vor Maiks Haus. Maik ist allein und hat Langeweile. Also steigt er in das „geborgte“ Auto, um auf Tatjanas Party als Überraschungsgast aufzutauchen.

Das ist der Beginn einer abenteuerlichen Reise mit dem fernen Ziel, Tschicks Großvater in der rumänischen Walachei zu besuchen. Die Fahrt führt nicht nur durch die ehemals ostdeutsche Provinz, sondern auch mitten hinein ins sagenumwobene Paralleluniversum namens Pubertät. Wolfgang Herrndorf bedient sich in seinen Dialogen ausgiebig bei der Jugendsprache und lässt Maik und Tschick quatschen, wie pubertierenden Jungs halt der Schnabel gewachsen ist. Dank seiner großen Erzählkunst wirkt das in keinem Moment anbiedernd oder peinlich, sondern passt „endgeil“, um es mal in der Tonart von Tschick zu formulieren.

Zum Autor

So unterhaltsam und urkomisch der Roman „Tschick“ stellenweise ist, so tragisch verlief das viel zu kurze Leben des Mannes, der dieses wunderbare Buch geschrieben hat. Wolfgang Herrndorf hat sich im August 2013 im Alter von nur 48 Jahren umgebracht. Die euphemistische Floskel „hat sich das Leben genommen“ passt hier einfach nicht. Nein, er hat sich einen Revolver in den Mund gesteckt und abgedrückt. Da trifft es „umgebracht“ wohl am besten.

Im Februar 2010 wird bei Herrndorf ein bösartiger Hirntumor entdeckt. Die Diagnose „Glioblastom“ kommt einem Todesurteil gleich, nur der Zeitpunkt seines Todes ist noch unklar. Herrndorf ist gerade einmal 45 Jahre alt, hat Kunst in Nürnberg studiert und als Illustrator in Berlin gearbeitet. Und er hat die ganze Zeit geschrieben, quasi nebenher. Bereits im Jahr 2002 erscheint sein Debütroman „In Plüschgewittern“ und 2007 folgt die Kurzgeschichtensammlung „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“. Beide Werke werden von der Kritik wohlwollend besprochen. Der große Durchbruch bleibt ihm jedoch verwehrt.

Statt sich von seiner gerade diagnostizierten, tödlichen Krankheit lähmen zu lassen, entwickelt Herrndorf eine noch nie dagewesene Produktivität. „Am besten geht es mir, wenn ich arbeite.“ Er vollendet in Rekordzeit seinen bereits angefangenen Roman „Tschick“, der noch im Jahr 2010 erscheint und über Nacht zum Bestseller avanciert. Gleichzeitig beginnt er in dem Blog „Arbeit und Struktur“ seine Krankheit öffentlich zu dokumentieren. Er verfügt, dass die Online-Blogtexte nach seinem Tod als Buch verlegt werden sollen.

Es bleibt ihm nicht viel Zeit, die Früchte seines plötzlichen Erfolgs zu genießen. Seine Persönlichkeit verändert sich durch die Krankheit nicht, aber seine Koordination und räumliche Orientierung werden zusehends schlechter. Doch Herrndorf, der auf keinen Fall seine letzten Wochen als Pflegefall erleben will, hat vorgesorgt und sich einen Revolver besorgt. Er verbringt Wochen damit minutiös zu recherchieren, wie er sich mit 100prozentiger Sicherheit erschießen kann. An einem der letzten Tage, an denen er körperlich noch in der Lage ist seinen Plan umzusetzen, setzt sich Herrndorf auf eine Bank am Ufer des Hohenzollernkanals. Er steckt den Revolverlauf in den Mund, zielt durch den Gaumen aufs Stammhirn und drückt ab.

„Denn man kann die Luft nicht ewig anhalten, aber doch ziemlich lange.“ - Aus „Tschick“

Die Fakten

  • Titel: Tschick
  • Autor: Wolfgang Herrndorf
  • Deutsche Erstausgabe: 2010
  • Verlag: Rowohlt Taschenbuch Verlag
  • 253 Seiten (Taschenbuchausgabe)
  • ISBN: 978-3-499-25635-6
  • Preis: 9,99 Euro

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5 Kommentare

Ich kann das Buch nur empfehlen. Letztes Jahr haben wir es mit den 9. Klassen gelesen und alle waren angetan.
Ich habe das Buch gelesen und fand es toll!
Ich kenne den Autor durch seine Karikaturen zu "Titanic"-Zeiten.

Das Buch kenne ich nicht, aber seine Lebensgeschichte und ziehe den Hut vor seiner letzten Entscheidung:
Herr im eigenen Haus zu bleiben!

5 Sterne für die Erinnerung an einen mutigen Mann!

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