Bestimmte Gerüche wirken wie eine Zeitmaschine. In Sekundenschnelle katapultieren sie einen zurück in die Vergangenheit, wecken Erinnerungen und lassen längst vergessene Momente wieder lebendig werden. Irgendwie magisch. Ein paar Duftmoleküle verirren sich in unsere Nase, treffen am oberen Ende der Nasenhöhle auf die Riechschleimhaut und BÄMM geht die Reise los.
Neulich habe ich einen Freund jottwede im grünen Speckgürtel von Berlin besucht. Dort, wo nachts noch Wildschweine die Vorgärten verwüsten und wenig Autos fahren, riecht die Welt anders als rund um die Gedächtniskirche. Als ich nach längerem Fußmarsch bei seinem Häuschen ankam, war er gerade mit dem Rasenmähen fertig. Er stand verschwitzt neben dem zusammengeharkten Grashaufen und ich stellte mich zu ihm. Das frischgemähte Gras roch intensiv nach frischem Grün und plötzlich, als ob sich eine verborgene Tür in meinem Gehirn geöffnet hätte, war ich im Garten meines Elternhauses. Ich war sechs Jahre alt und schaute meinem Vater beim Rasenmähen zu, jedes Detail war klar zu erkennen. Und genauso plötzlich, wie sie sich geöffnet hatte, fiel die Tür in meinem Kopf auch wieder zu und ich war zurück im Garten meines Freundes.
Ich hatte ähnliche Momente schon zuvor erlebt und immer waren diese Erinnerungs-Blitze durch einen Geruch ausgelöst worden. Als ich am Abend wieder daheim war, begann ich im Netz nach einem Namen für dieses Phänomen zu suchen und landete schnell beim sogenannten „Proust Effekt“. Der französische Autor Marcel Proust beschreibt in seinem Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, wie ein Mann ein Gebäckstück in seinen Tee tunkt. Der dabei entstehende Geruch setzt bei ihm Kindheitserinnerungen frei, die zuvor in seinem Unterbewusstsein verborgen waren.
Okay, jetzt hatte ich schon mal einen Namen für das Phänomen. Was noch fehlte, war die Erklärung, wie der Proust Effekt zustande kommt. Ich mache es mal unwissenschaftlich kurz: Die visuellen, auditiven, taktilen und gustatorischen Sinneseindrücke, also Sehen, Hören, Tasten und Schmecken, werden in der Großhirnrinde gefiltert und verarbeitet. Die olfaktorischen Wahrnehmungen, also Gerüche, rasen hingegen ungebremst und ungefiltert direkt ins limbische System. Dieser biologisch älteste Teil des menschlichen Gehirns ist für die Verarbeitung von Emotionen und die Steuerung der Triebe zuständig. Diese Erläuterung würde in einer medizinischen Abhandlung als unzureichend gelten. Mir als Laien reicht sie zur Erklärung, warum bestimmte Gerüche sofort Assoziationsketten auslösen und Erinnerungen oder Begierde wecken.
Ich entsinne mich an eine Biologiestunde meiner Schulzeit, in der uns unser Lehrer Herr Stakenkötter (doch, so heißen einige Menschen in Westfalen wirklich) fragte, auf welchen unserer Sinne wir am ehesten verzichten würden. Die Klasse stimmte ab und die Nase hat gewonnen. Also in Wahrheit natürlich verloren, weil die meisten auf den Geruchssinn verzichtet hätten. Ich habe mich damals für das Schmecken entschieden, Essen war mir noch nie so wichtig. Herr Stakenkötter klärte uns dann auf, dass Schmecken und Riechen in einer quasi symbiotischen Beziehung zueinander stehen. Menschen, deren Geruchssinn defekt ist, sind auch bei der Wahrnehmung verschiedener Geschmäcker stark eingeschränkt. Die Schweizer unter euch wissen das bereits. In der Schweiz steht nämlich das Wort „Gout“ sowohl für Geruch als auch für Geschmack. Dementsprechend können die Schweizer ein Käsefondue auch mit „Gusto goutieren“, während wir Banausen es nur schmecken und riechen. Eigentlich mehr riechen. Womit wir einen nahtlosen Übergang zum Thema „unangenehme Gerüche“ haben.
Jemanden „nicht riechen“ zu können ist weit mehr als eine abgedroschene Floskel. Tatsächlich ist der Geruch eines Menschen evolutionär gesehen eins der wichtigsten Kriterien bei der Partnerwahl. In den Pheromonen (Duftstoffen), die der menschliche Körper absondert, sind Informationen über sein Erbgut enthalten. Je stärker sich das Erbgut eines anderen von unserem eigenen unterscheidet, desto besser können wir „ihn riechen“. Der Grund dafür: Verschiedenes Erbgut bedeutet auch ein unterschiedliches Immunsystem. Potentielle Nachkommen profitieren also von einem genetischen Mix aus zwei unterschiedlichen Immunsystemen und sind damit besser gegen Krankheiten gewappnet. Darüber hinaus schützt dieser „Geruchs-Instinkt“ vor Inzest, der häufig zu Gendefekten bei den Nachkommen führt. Das erklärt natürlich auch, warum ich meine Schwester nie so gut „riechen konnte“ – unser Erbgut ist einfach zu ähnlich.
Just in diesem Moment weht ein Geruch aus der Küche herüber: Meine Verlobte (deren Erbgut sich sehr von meinem unterscheiden muss, so gut wie ich sie riechen kann) brutzelt etwas in der Pfanne. Mein limbisches System brüllt lautstark etwas von HUNGER und überstimmt damit den Rest meines Gehirns, der eigentlich noch einen Tipp hier einbauen wollte. Nächstes Mal vielleicht…
Kreativling