Buchtipp: "Panikherz" von Benjamin von Stuckrad-Barre

Buchtipp: "Panikherz" von Benjamin von Stuckrad-Barre
Lesezeit ca. 2 Minuten

Eine Lebensbeichte in Form eines Buches ist gefährlich. Der Grat zwischen Selbstbeweihräucherung und Selbsterniedrigung ist extrem schmal und rutschig. Viele Schriftsteller sind bei dem Versuch ihn zu beschreiten abgestürzt und ihren literarischen Verletzungen erlegen. Danach ist nichts mehr wie zuvor, die Seele liegt bloß und der Verfasser landet schnell am öffentlichen Pranger. Oder im Schriftsteller-Olymp, je nachdem. Mich als Leser freut es, wenn Autoren blankziehen, ich habe ein Faible für menschliche Abgründe und Abseitiges. Da kam mir das Buch Panikherz von Benjamin von Stuckrad-Barre gerade recht, liefert es doch mehr als genug von beidem. Ein Stück Literatur wie ein Drogentrip, schnell, ekstatisch und ständig in Gefahr als Horrortrip zu enden. Doch Stuckrad-Barre hat die Kurve gekriegt, im Leben wie im Buch. Zwar mit quietschenden Reifen und ein wenig Blechschaden hier und da, aber alles andere wäre dem Enfant terrible der deutschen Popliteratur auch nicht gerecht geworden.

Zum Inhalt

In Panikherz erzählt Stuckrad-Barre sein Leben, nicht mehr und nicht weniger. Das klingt erst einmal nicht sonderlich spannend, aber was dem geneigten Leser da auf über 500 Seiten um die Ohren fliegt, sucht seinesgleichen. Mit wenigen Strichen skizziert Stuckrad-Barre seine Kindheit in einer protestantischen Pfarrersfamilie in der norddeutschen Provinz. Dabei verliert er sich Gott sei Dank nicht in ermüdenden Details. Die Schilderung ist gerade ausführlich genug, um seinen brennenden Wunsch nach einem Ausbruch aus dem vermeintlichen Familienidyll nachvollziehbar zu machen. Hier nimmt Stuckrad-Barre auch den roten Faden auf, der seine ganze Geschichte durchzieht wie ein, äh, roter Faden.

Stuckrad-Barres roter Faden ist Udo Lindenberg. Erinnert sich jemand? Der ewig nuschelnde Panikrocker mit Hut, Sonnenbrille, grünen Socken und einer Vorliebe für destillierte Getränke? Es sind Udos Songs, die den jungen Benjamin mit der Sehnsucht nach Weite und Freiheit infizieren. Sie prägen nicht nur seinen Musikgeschmack, es geht um ein Lebensgefühl, eine Haltung. DAS ist die Welt, in der Benjamin leben möchte. Das Freiheitsversprechen des Hamburger Hafens und das verruchte Rotlichtmilieu der Reeperbahn werden zu seinen Sehnsuchtszielen. Dass Udo in Persona später zu Benjamins Rettungsanker werden soll, ahnt der Junge aus der Provinz hier noch nicht. Wie auch? Seine Welt ist Lichtjahre entfernt von der des deutschen Rockstars.

Was nun folgt ist eine irrwitzige Achterbahnfahrt. Stuckrad-Barre beginnt nach dem Abitur für die Musikzeitschrift Rolling Stone zu schreiben. Da ist er, der Fuß in der Tür zum Showbiz. Er trifft Stars und Sternchen, hat Zugang zum sagenumwobenen Backstagebereich und führt Interviews mit den Größen der Musikszene. Eine schnelle und oberflächliche Welt, ständig angetrieben von Kokain und Alkohol. Als echter Suchtmensch springt Stuckrad-Barre auf den Drogenexpress auf und lebt, als gäbe es kein Morgen. Und das ist erst der Anfang. Was danach geschieht, sprengt jeglichen Rahmen, auch den dieser Rezension. Daher nur noch so viel: Immer, wenn man beim Lesen denkt „…schlimmer kann es aber echt nicht mehr werden“, wird es genau das: Schlimmer. Im Abgrund tun sich neue Abgründe auf. “Wenn ich erwachte, brauchte ich eine Weile, um einen Zusammenhang herzustellen zwischen den durch die Gardinen hindurch sichtbaren Tageszeitindizien und der zuletzt erinnerten Tageszeit, ich unterschied nur mehr zwischen hell und dunkel, Tag und Nacht. Manchmal schlief ich wohl 26 Stunden, manchmal auch nur zwei, es war alles nicht so klar und sollte das auch auf gar keinen Fall werden.

Das alles schreibt Stuckrad-Barre Jahre später, nüchtern und im von Udo Lindenberg verordneten Exil in Kalifornien. Er geht mit Thomas Gottschalk auf ein Konzert der Beach Boys (die allesamt Wasser und Surfen hassen), trifft Courtney Love am Hotelpool und sein Schriftsteller-Idol Bret Easton Ellis in dessen Haus. Dass selbst Tote wie Kurt Cobain und Regisseur Helmut Dietl auftauchen, verwundert einen dann nicht mehr wirklich. Um es mal mit den geklauten Worten eines Literaturkritikers des Spiegel zu sagen: Das Buch ist geil.

Zum Autor

Benjamin von Stuckrad-Barre, Jahrgang 1975, galt bereits in jungen Jahren als literarischer Wunderknabe. Nach seiner Zeit als Musikredakteur beim Rolling Stone arbeitete er als Produktmanager beim Plattenlabel Motor Music und als Gagschreiber für die Harald Schmidt Show. Im zarten Alter von 23 Jahren erschien sein Debütroman Soloalbum, der ihn über Nacht zum angesagtesten Popliteraten Deutschlands machte. Sein Leben auf der Überholspur trug Früchte, ähnelte aber auch einem groß angelegten Langstreckenselbstmordversuch (alles nachzulesen in Panikherz). Stuckrad-Barre lebt mittlerweile clean und abstinent mit Frau und Kind in Berlin. Panikherz wird ab Februar 2018 als Theaterstück im Berliner Ensemble zu sehen sein.

Die Fakten

  • Titel:
  • Autor: Benjamin von Stuckrad-Barre
  • Deutsche Erstausgabe: 10. März 2016
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • 576 Seiten (Taschenbuchausgabe)
  • ISBN: 978-3462050660
  • Preis: 12,99 Euro

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4 Kommentare

Das Buch ist etwas für mich.
Ich lese gerne Biografien - und dann noch aus der Szene.*g*
Zuerst vollgedröhnt durchs Universum segeln und erfolgreich sein und ein wenig abstürzen und dann noch mal und zum Schluss die große Auferstehung. Wer das schafft ist genial. Ich kenne Leute, die immer ein bisschen am Abgrund lebten und dann vernünftig wurden und nach 10 oder 15 Jahren an den Spätfolgen ihres ungesunden Lifestyles zugrunde gingen. Der Körper verzeiht nix. Leider.... Danke Kriss für Deinen Tipp, ob ich so ein Leben lesen kann, weiß ich noch nicht so genau.
@gudula: Der Körper verzeiht nix. Leider...

Hm, Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel, wenn ich da z. B. an verschiedene Bandmitglieder denke.
Immerhin wird Mick Jagger im Juli schon 75 Jahre alt.
Rod Wood soll angeblich schon acht Entziehungskuren hinter sich haben.

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